40 Jahre Tageszentrum Engelsgrube Lübeck
Dr.-Ing. Volker Zahn, Bausenator der Hansestadt Lübeck a. D.
Von der Kneipenstraße zum städtebaulichen Vorzeigeobjekt
Noch weitgehend unbeachtet von Öffentlichkeit und Politik war die Lübecker Altstadt Ende der 1960er Jahre in städtebaulicher, baulicher, sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht ein Ort, der sich in einem teilweise dramatischen Verfallsprozess befand.
In der Altstadt hatten: ~ 62% der Wohnungen kein Bad, ~ 30% kein eigenes WC, ~ 30% keine Heizung und ~ 38% der Wohnungen waren im Brandfall nicht zu erreichen. Es wohnten dort rund 17.000 Menschen, davon waren ~ 29% über 65 Jahre alt, ein Großteil der Bewohnerschaft verfügten nur über ein unterdurchschnittliches Einkommen, ~ 26% lebten von der Rente. Von den Menschen in der Altstadt hatten ~ 74% der Erwerbstätigen einen Volksschulabschluss, ~ 8% der Kinder waren unter sechs Jahren und bei vielen Wohnungen zog es im Winter gefährlich durch die undichten und oft nicht zu verschließenden Fenster. Knapp 31% der Wohnungen waren feucht, Krankheiten waren durch die baulichen Zustände vorprogrammiert und breiteten sich aus. Man fand mitunter die eine oder andere Bewohnerin oder den einen oder anderen Bewohner erst nach längerer Zeit leblos in ihren Betten. Kriegsversehrte und traumatisierte Menschen lebten nicht selten in den unzulänglichen Häusern der Altstadt.
Vor dem Hintergrund der dargestellten Situation begann noch in den 1970er Jahren/Anfang 1980 die städtebauliche und bauliche Sanierung der Altstadt, mit den Zielen, menschenwürdiges, gesundes Wohnen zu ermöglichen, das zugleich den gestalterischen Ansprüchen der historischen, denkmalschutzwürdigen Altstadt gerecht werden sollte.
Lübecks erstes Sanierungsgebiet lag im Bereich Alsheide/Engelswisch – sozusagen in Sicht- und Hörweite zur Engelgrube 47, dem heutigen Sitz des Vereins „DIE BRÜCKE“. Zum Zeitpunkt der beginnenden Altstadtsanierung war die Atmosphäre in der Engelsgrube äußerst angespannt. Die Engelsgrube hatte sich Ende der 1970er und zu Beginn der 1980er Jahre mit seinerzeit bis zu 20 Gaststätten und unterschiedlichsten Bier- und Musiklokalen den zweifelhaften Ruf einer „Kneipenstraße“ erworben. Besonders in den Abendstunden bis in die späte Nacht und in den frühen Morgen war die Engelsgrube zu Beginn der Sanierung eine der am höchsten frequentierten Kneipenstraßen der Altstadt. Verbunden mit dem Lärm der Kneipenbesucher*innen führte diese Situation zunehmend zu Konflikten zwischen sanierungswilligen Eigentümer*innen und der Vielzahl von Kneipenlokalen. Sie erschwerten dadurch den Beginn und den zügigen Fortgang der erforderlichen Sanierungsmaßnamen privater Gebäude.
Im Interesse einer zügigen Altstadtsanierung reagierte die Bauverwaltung der Hansestadt Lübeck konsequent auf die zunehmend unhaltbaren Zustände mit einer „Ortssatzung zur Begrenzung von Gaststätten und deren Öffnungszeiten“.
Neben sanierungsbaulichen, bauphysikalischen und auch gebäudetechnischen Aspekten kam ein weiteres Problem hinzu: Die zu sanierenden Gebäude in der Engelsgrube hatten überwiegend nur jeweils einschalige Außenwände. Als Folge konnte der Schall aus den jeweiligen Gebäuden durch die Außenwände in die angrenzenden Gebäude übertragen werden.
Der Verein „DIE BRÜCKE“ erwarb den ehemaligen Speicher in der Engelsgrube 47 im Jahre 1981 und konnte ihn – dank der Sanierungsmittel nach Städtebaufördergesetz und vieler Spenden – 1984 mit einem Tageszentrum im Erdgeschoss und Räumlichkeiten für eine Tagesklinik/Tagesaufenthalte in den oberen Etagen eröffnen.
40 Jahre seit Inbetriebnahme besteht das Tageszentrum nun und bietet Menschen, die sich in einer schwierigen Lebensphase befinden oder psychisch beeinträchtigt sind, vielfältige Unterstützung. Unter sozialen, nachbarschaftlichen und gesundheitlichen Gesichtspunkten war der Erwerb und die Sanierung des Gebäudes Engelsgrube 47 durch „DIE BRÜCKE“ ein Glücksfall für die Stabilisierung der Engelsgrube und vor allem für die Menschen, die dort in den Sanierungsgebieten lebten. Das soziale Miteinander im Sanierungsgebiet erlebte neue Impulse.
In Verbindung mit angrenzenden sozialen Einrichtungen in Gebäuden und Gängen der Nachbarschaft gehört die Engelsgrube heute zu einer der erfolgreichsten Sanierungsmaßnahmen der vergangenen vier Jahrzehnte in der Lübecker Altstadt.
weiterlesen: Pioniere erinnern sich, Teil 3 – Hiltrud Kulwicki.