Lebens- und auch Onlinewelten verstehen und begleiten.

Das Internet ist aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken. Ob soziale Netzwerke, Streaming-Dienste, Online-Shopping oder Gaming: Die digitale Welt ist rund um die Uhr verfügbar und bietet unbegrenzte Möglichkeiten der Unterhaltung, Information und Kommunikation. Doch was, wenn die digitale Welt nicht nur Teil des Lebens ist, sondern dessen Zentrum bildet? Dann kann eine sogenannte Internetnutzungsstörung vorliegen – eine Form der Verhaltenssucht, die zunehmend auch in der sozialpsychiatrischen Arbeit an Bedeutung gewinnt.
Internetnutzungsstörung: Wann wird aus Online-Sein eine Sucht?
Die Grenze zwischen intensiver Internetnutzung und behandlungsbedürftigem Verhalten ist dabei fließend. Doch allein die Menge an verbrachter Zeit im Internet ist kein ausreichender Indikator. Entscheidend ist vielmehr die Frage, inwiefern die Nutzung das eigene Leben beeinträchtigt. Typisch ist, dass Betroffene andere Lebensbereiche wie z. B. Freundschaften, Hobbys und Beruf zunehmend vernachlässigen und trotzdem nicht aufhören können – obwohl sie unter den Konsequenzen leiden. […] Wer sich gestresst, einsam oder überfordert fühlt, findet in der virtuellen Welt einen Zufluchtsort: In Games können Erfolge erlebt werden, auf Social Media fühlen sich Betroffene eingebunden, beim Scrollen wird der Alltag ausgeblendet.
Die digitale Welt erlaubt es darüber hinaus, sich neu zu inszenieren – beispielsweise durch einen selbst erstellten Avatar, der ein besseres Ich darstellt. Für viele wird die digitale Welt somit zu einem sicheren Raum, in dem Ängste, Unsicherheiten und Misserfolge weniger sichtbar sind. Gleichzeitig bietet sie aber auch Risiken: Der ständige Vergleich mit anderen auf Social Media kann den eigenen Selbstwert sowie das psychische Wohlbefinden belasten. Studien zeigen, dass eine intensive Nutzung sozialer Netzwerke mit depressiven Verstimmungen in Verbindung stehen kann – insbesondere bei Jugendlichen, für die Online-Räume zunehmend auch soziale Räume sind.
Hilfe finden: Wege aus der digitalen Abhängigkeit
Schätzungen zufolge sind etwa fünf Prozent der Bevölkerung von einer Internetnutzungsstörung betroffen – mit steigender Tendenz. Besonders gefährdet sind Jugendliche und junge Erwachsene, die als Digital Natives aufgewachsen sind. Für sie ist der Alltag ohne digitale Medien kaum mehr vorstellbar. Das macht die Unterscheidung zwischen intensiver Nutzung und Störung besonders schwierig. Mit der steigenden Zahl an Betroffenen wächst auch die Notwendigkeit geeigneter Therapieangebote. Bisher gibt es aber nur wenige spezialisierte Behandlungsmöglichkeiten. Das UKSH in Lübeck bietet derzeit ein Angebot an, das mit der Diagnostik beginnt und dann je nach Schweregrad in Kurzberatung oder Gruppen- und/ oder Einzeltherapie überführt wird. Vereinzelt bieten auch stationäre Einrichtungen wie z. B. die Rehaklinik am Schweriner See spezialisierte Programme an.
Meist stellen verhaltenstherapeutische Ansätze die Grundlage der Behandlung dar – wobei es nicht nur darum geht, die Online-Zeit zu reduzieren, sondern auch alternative Strategien zur Emotionsregulation zu entwickeln und ein gesünderes Medienveralten zu etablieren.
Ein neuer Blick auf digitale Medien
[…] erst, wenn wir verstehen, was genau die digitale Welt für die jeweilige Person ersetzt und wir die Funktionen der digitalen Welt anerkennen, können gemeinsam alternative Ideen innerhalb der analogen Welt entwickelt werden. Seien es kreative Tätigkeiten, soziale Projekte, Sportgruppen oder andere Räume, in denen Selbstwirksamkeit geübt und erlebt werden kann. […]Die Herausforderung besteht letztlich nicht darin, die digitale Welt als Feind zu betrachten oder sich ihr zu entziehen. Vielmehr müssen wir lernen, mit ihr zu leben und sie bewusst und reflektiert zu nutzen. Das bedeutet auch, digitale Medien perspektivisch als Ressource einzusetzen[…] Die eigentliche Aufgabe liegt demnach vielleicht nicht unbedingt darin, Menschen davon zu überzeugen, weniger online zu sein, sondern sie dabei zu unterstützen, anders online zu sein: bewusster, reflektierter und vor allem verbunden mit dem analogen Leben. Das bedeutet auch, unsere Skepsis gegenüber digitalen Räumen zu hinterfragen – und mutig zu sein, ihnen mit mehr Offenheit zu begegnen.
Fort- und Weiterbildungen sind essenziell
Gerade deshalb braucht es in der Sozialpsychiatrie nicht nur Verständnis für die Lebenswelten der Adressat*innen, sondern auch aktuelles Fachwissen. Fort- und Weiterbildungen in diesem Bereich sind essenziell, denn die digitale Welt entwickelt sich mit neuen Plattformen, Formaten und auch Risiken rasant weiter. Diese Schnelllebigkeit bringt stetig neue Herausforderungen mit sich, auf die Fachkräfte vorbereitet sein müssen. Gerade in der Begleitung vulnerabler Gruppen ist das Wissen um digitale Dynamiken ein wichtiger Schlüssel für mehr Verständnis und wirksamere Unterstützung. Es ist auch ein Schlüssel dafür, die digitale und analoge Lebenswelt nicht als Gegensätze zu begreifen – sondern als miteinan- der verwobene Räume.
Laura Kindler
Sozialpädagogin, Ambulant Betreutes Wohnen
Die ungekürzte Fassung dieses Textes und mehr zum Thema Gemeindespychiatrie finden Sie im BRÜCKE-Magazin 25 (PDF) ab Seite 30.