Armut in Lübeck – „Armut wiegt schwer und gefährdet das gesellschaftliche Gleichgewicht“

Anlässlich der Lübecker Armutskonferenz in 2018 hat sich unsere Autorin Hiltrud Kulwicki so ihre eigenen Gedanken gemacht und in der Historie der Armut in Lübeck Erstaunliches gefunden. Der Artikel erschien in Ausschnitten auch im BRÜCKE-Magazin 2018 – hier ist nun die vollständige Fassung.

Artikel von Hiltrud Kulwicki

„Das Geben ist leicht. Das Geben überflüssig zu machen, ist viel schwerer.“ Dies sagte Henry Ford, ein Großindustrieller (1863 – 1947). Zur Lösung der schweren Aufgabe gibt es Vorbilder in Lübeck, und die armen Zielgruppen aller Bemühungen scheinen die gleichen geblieben zu sein. Ich greife auf ausgewählte Zitate aus dem Lübecker Stadtarchiv zurück. Warum Armenfürsorge?

„…damit der überhand nehmenden Betteley, wodurch Faulheit und Müßiggang, die Quelle aller Laster, genähret, die Kinderzucht verwahrloset, der fleißige Bürger in seinen Berufsgeschäften gehindert, und wohl gar Sicherheit und Ordnung gestöhret wird, auch kein Vorwand übrig bleibe…“ (Rat und Bürgerschaft, 1783).

„Seit dem 17. Jahrhundert bildete das St.-Annen-Armen- und Werkhaus den Mittelpunkt der öffentlichen Armenversorgung und an dieses wurde nun auch der größere Teil der gesammelten Gelder (kirchliche Sammlungen und Spenden, H.K.) abgegeben. Jeder Bürger war zur Mitarbeit für drei Jahre im Armendiakonat verpflichtet; er konnte sich von diesem Amt aber auch loskaufen; auch dieses Geld kam dem Armen- und Werkhaus zugute.“ 1860 wurde das Armendiakonat abgeschafft; die Armenpflege wurde verstaatlicht.

Trotzdem gab es immer auch Privatstiftungen, aus Christlicher Nächstenliebe gegründet (1839 rund 200 Stück). StifterInnen waren Kaufleute / deren Witwen, Ratsherren, Geistliche, Brauer oder Schiffer, selten auch Handwerker. Wer bekam Stiftungsgelder? „…zu besonderen Gelegenheiten wie Ostern oder Weihnachten…das St.Annen-Armen- und Werkhaus, das Waisenhaus oder das Irrenhaus. Sie konnten aber auch für Arme einzelner Berufsgruppen, für arme Frauen,  alte Menschen, Kranke oder Waisen bestimmt sein. Eine weitere Verwendung fanden sie für den Unterricht armer Kinder oder für Armenspeisungen.“ Die Lübecker Stiftungen sind heute für denselben Personenkreis angefragt.  „Einzelne Personen konnten durchaus von mehreren Stiftungen Gelder erhalten“ – ein Vorläufer des „Persönlichen Budgets“. Es gab natürlich Kritik für dieses Vorgehen: Mangelnde Prüfung der Bedürftigkeit, fehlende Kooperation, nicht eingehaltene Bestimmungen der StifterInnen von den Verwaltern der Stiftungen. All diese Bemühungen zählten zur „passiven Armenunterstützung“.

Aktive Unterstützung gab es für junge Erwachsene in berufsspezifischen Unterstützungsvereinen und Freischulen für junge Mädchen und Frauen („Jugendberufsbildung“ – ein auch heute aktuelles Thema).

Der Weibliche Armenverein (gegr. 1845) sorgte für Nahrungsmittel, Brennstoff und Kleidung, und entschied, dass neben der materiellen Versorgung auch „persönliche Betreuung“ von Nöten sei. Personen mit „unsittlichem Lebenswandel“ und „rückfällige Alkoholiker“ wurden ausgeschlossen, dafür aber ehemalige Sträflinge unterstützt. „…weitete der nur lose organisierte Frauenverein seine Tätigkeit auf verschiedene Bereiche der Armen- und Krankenversorgung aus. Durch das Industriemagazin sowie eine Näh- und Strickanstalt wurden rund 130 Arbeiterinnen beschäftigt. Ein Kleidermagazin diente der Versorgung Armer und Bedürftiger mit Kleidung und Wäsche. An Arme wurden Brote, warme Speisen und Torf verteilt. Im Rahmen der Krankenpflege bemühten sich die rund 30 Mitglieder des Vereins besonders um Krebskranke. Kindern verschämter Armer finanzierten sie in einer Schulklasse den Unterricht.“

Und so weiter…

Seit 1815 gab es die Central-Armen-Deputation (CAD), die angewiesen war, „die dem Staate obliegende Oberaufsicht über sämmtliche Anstalten zur Verhütung, Verminderung und Erleichterung der Armuth wahrzunehmen“.

Bereits 1789 stellte Friedrich Federau (Subrektor des Katharineums) fest, „dass es, je mehr Reiche es in bestimmten Gegenden … gäbe, desto mehr Arme auch vorhanden seien“. „Zur Verminderung der Armut schlug Federau die Schaffung von Arbeitsplätzen vor, das Problem wäre nur, den Fähigkeiten der Armen entsprechende Tätigkeiten zu finden.“

Ursachen der Armut damals:

„Tod des Familienvaters infolge schlechter Arbeitsbedingungen, die Krankheiten nach sich ziehen, deshalb seien 90% der Armen Frauen und Kinder, auch durch böswilliges Verlassen von Frau und Familie durch Männer, die geringe Integration der Dienstboten, starke Verteuerung der täglichen Grundbedürfnisse, zu niedriger Lohn für öffentliche Arbeiten, unzulänglicher Schulunterricht, das Einschleichen bedürftiger Familien in die Stadt, unsittliche Erwerbsarten, Glücksspiel und der Genuss von Alkohol….Gegen hohe Mieten und schlechte Wohnungen forderte Brehmer (Nicolaus Heinrich Brehmer, Arzt, von der Gemeinnützigen, H.K.) den Bau von billigen Wohnungen durch gemeinnützige Unternehmer. Weitere Abhilfe sah er in …Lohnfortzahlungen im Krankheitsfall und Kündigungsfristen.“

Förderung von Kindern in den Bereichen Gesundheit und Bildung, Förderung in Ausbildung und gut bezahlter Arbeit, bezahlbarer Wohnraum und Versorgung von Kranken und Alten und das Einfordern von Solidarität ist heute wie damals identisch, identisch ist auch der ständige Hinweis der Politik aller Farben auf die Begrenztheit der finanziellen Mittel. Deshalb gab und gibt es strenge Bedürftigkeitsprüfungen, Unterscheiden von Nicht Können (bei Teilhabeeinschränkungen durch Krankheit und Behinderung) und Nicht Wollen (Unterstellen der „Trägheit“ von LeistungsempfängerInnen), ein ständiges Analysieren der Ursachen der Armut und einen ständigen Versuch, den Einsatz der Mittel gering zu halten und Eigeninitiative zu belohnen („Fördern und Fordern“) bei gleichzeitiger Kontrolle der Wirksamkeit.

Die Zukunft ist offen für Innovationen…