Hiltrud Kulwicki – Eine lange Entwicklung miterlebt und mitgestaltet

Anlässlich ihrer Pensionierung im Frühjahr 2018 hat das BRÜCKE-Magazin mit Hiltrud Kulwicki, der ehemaligen Leiterin des Tageszentrums in der Engelsgrube und früheren Bereichsleiterin Tagesstrukturierung, ein Interview geführt. Sie blickt zurück auf die Entwicklung der letzten 40 Jahre, die sie in der BRÜCKE und in der Gemeindepsychiatrie nicht nur miterlebt sondern nach Kräften auch mitgestaltet hat. Das Interview mit Hiltrud ist auch ein Diskussionsbeitrag zur Entwicklung der Gemeindepsychiatrie der letzten Jahre.

Hiltrud Kulwicki beim Interview
Hiltrud Kulwicki beim Interview

Redaktion: Hiltrud, Du bist seit 37 Jahren, davon 35 Jahre fest angestellt, bei der BRÜCKE und hast eine lange Entwicklung erlebt und mitgestaltet. Wie bist Du zur BRÜCKE gekommen?

Hiltrud Kulwicki: Das war im September 1981, im Rahmen der Studien-begleitenden Praxis. Damals habe ich in der Begegnungsstätte, dem Vorläufer des Tageszentrums, mitgearbeitet. Im Januar 1982 habe ich im Rahmen meines 6-wöchigen Blockpraktikums den täglichen Mittagstisch eingeführt und im Mai 1983 dann im Anerkennungsjahr die reguläre Arbeit aufgenommen. Das war schon die Zeit, in der die Brücke Lübeck im kleinen Modellverbund war, und in der Modellphase war es möglich, Projekte zu entwickeln, die dann in eine Regelfinanzierung übergehen sollten. Eines dieser Projekte war die erste Tagesstätte in Schleswig-Holstein, in der ich dann auf Dauer meinen Arbeitsplatz gefunden habe.

R.: Über die lange Zeit (1973 Gründung des BRÜCKE-Vereins, 1980 Gründung der gGmbH) betrachtet: Was sind aus Deiner Sicht die gravierenden Veränderungen in der Gemeindepsychiatrie?

HK.: Generell hat es  so gut wie keine „Gemeindepsychiatrie“ in Deutschland gegeben – das wäre so etwas gewesen, was heute unter „Inklusion“ verstanden wird:  Alle BürgerInnen gestalten gemeinsam das Zusammenleben, und wir Fachkräfte begleiten diesen Prozess, indem wir  vermitteln und entwickeln, was psychisch erkrankte Menschen benötigen, um in der Gemeinschaft leben zu können.  „Echte“ Gemeindepsychiatrie wäre demnach sozialpolitische Gemeinwesenarbeit (heute: Arbeit im Sozialraum) gewesen. Das sind allerdings fallunspezifische Arbeitsweisen, die pauschal zu finanzieren sind und nicht auf der Basis eines persönlichen Rechtsanspruchs  gestaltet werden. Damit sind diese Leistungen nicht so eng kontrollierbar, wie es bei personenzentrierten, beantragten und begutachteten Hilfen der Fall ist. Es ist die alte Kritik, dass aus der „Sozial“psychiatrie eine „Soziahilfe“Psychiatrie wurde, bei der sich etliche Leistungsträger zurückgehalten und  Leistungen für chronisch unterstützungsbedürftige BürgerInnen komplett der Eingliederungshilfe zugeschoben haben. Natürlich sind dort dann die Kosten explodiert.

Ein Motto über dem Eingang zum Tageszentrum in der Lübecker Innenstadt
Ein Motto über dem Eingang zum Tageszentrum in der Lübecker Innenstadt

Als BRÜCKE machen wir „Psychiatrie in der Gemeinde“: Wir sind vor Ort, wir sind sichtbar, wir sorgen dafür, dass Menschen hier in Lübeck ein differenziertes und fachlich gut ausgestattetes Unterstützungssystem vorfinden, und wir haben trotzdem nicht aufgehört, uns einzumischen, uns zu beteiligen und deutlich zu machen, worin es nach wie vor gravierende Mängel gibt. Und  inzwischen sind durch die Ausgestaltung der Hilfen insbesondere im Bereich Behandlung und Rehabilitation und Arbeit endlich die anderen Leistungsträger mit im Boot.

Trotzdem bedaure ich, wie viele soziale Notlagen individualisiert und psychiatrisiert werden, und wie politische Solidarität und Aktivität zugunsten der eigenen Nabelschau und zuweilen  auch des sich Suhlens in Selbstmitleid gewichen ist. Unerträgliche Arbeits- und Wohnbedingungen und zunehmende Marginalisierung der Mittelschicht werden nicht durch die Psychiatrie verändert, wir helfen eher, das Elend erträglich zu machen.

R: Welche grundlegenden Entwicklungen hat es in der Zeit seit der Gründung für die BRÜCKE und ihre Angebote gegeben? Heute gibt es ja 5 verschiedene Bereiche mit rd. 25 Einrichtungen und mehr als 400 Beschäftigten.

HK.: Für mich war eine grundlegende Entscheidung der Einstieg in den Bereich Behandlung mit der Gründung der Tagesklinik 1983. Damit wurde deutlich, dass die BRÜCKE keine alternativen Wege zur medizinisch ausgerichteten Arbeit  einschlägt, sondern sich als „komplementäre Einrichtung(en)“ in das vorhandene System eingliedert. Also keine Soteria  z.B. Und immer wieder muss gesagt werden, dass dies nicht hätte finanziert werden können – auch die Reformpsychiatrie des Bundes handelte nach der Devise „De Düwel schiet immer op den größten Hupen“. Das heißt, bestehende Großkliniken wurden in Spezialabteilungen und Wohnbereiche gegliedert, und nicht etwa verkleinert  oder gar aufgelöst.

So sehr ich inhaltlich diese Entwicklung bedauert habe, war es wirtschaftlich die beste aller möglichen Entscheidungen, und was ich an der von mir nicht immer so gewünschten Entwicklung trotzdem sehr schätze, ist, dass wir kein Wachstum um der reinen Größe willen angestrebt haben, sondern dass  jedes Angebot auf der Basis einer wahrgenommenen Notlage vieler Personen entwickelt wurde, und das zeigt sich auch heute: Alle Abteilungen sind mehr als genug ausgelastet.  Bei vielen Entwicklungen waren wir erstmals mit diesem Angebot in Schleswig-Holstein, und bei manchen sind wir bis heute einzigartig geblieben. Trotz bestehender kritischer Grundhaltung dem Versorgungssystem gegenüber bin ich immer stolz und zufrieden gewesen, ein Teil der BRÜCKE Lübeck zu sein.

R: Sehr einschneidend in der Entwicklung der BRÜCKE und sicher auch für Dich war die Sanierung und der Umbau des Speichergebäudes in der Engelsgrube 47 von 1981 bis 1984. Wie hast Du diese Zeit erlebt?

Sanierung des Speichers in der Engelsgrube 47 (ab 1981), heute das Tageszentrum der BRÜCKE
Sanierung des Speichers in der Engelsgrube 47 (ab 1981), heute das Tageszentrum der BRÜCKE

HK.: Es war für mich eine Zeit des Aufbruchs und der beruflichen Neuorientierung, und der klaren Entscheidung für das sozialpsychiatrische Arbeitsfeld und natürlich für die BRÜCKE. Sonst hätte ich ein Wohnhaus bei der Lebenshilfe Uelzen geleitet, und wäre aufs Land nach Lüchow-Dannenberg gezogen. Die Sanierung verbinde ich mit rauschenden Altstadtfesten, rührigen LaienhelferInnen, der systematischen Begleitforschung durch Monika Sieverding, wodurch uns das professionelle Profil bewusster wurde und spezifischere Formen annahm. 1983 feierten wir 10 Jahre Jubiläum, und im Zusammenhang mit der Vorbereitung lernte ich bei der Brücke meinen Ehemann kennen.  In guter Erinnerung habe ich das basisdemokratische Führungsmodell, wo im Plenum, bestehend aus dem Vorstands des Vereins, den LaienhelferInnen, den BesucherInnen der Einrichtung und der kleinen Handvoll Mitarbeitenden gemeinsam Entscheidungen getroffen wurden, und gemeinsame Konzeptdiskussionen die Grundlage hierfür boten. Und ich erinnere gern, mit Betreuten zum bundesweiten „Gesundheitstag“ in Bremen und in Hamburg gereist zu sein, und dort haben wir gemeinsam unsere „Brücke-Ansätze“ vertreten.

R.: Lange Zeit war auch die 1983 gegründete Tagesklinik – die erste in Schleswig-Holstein –  im Speicher untergebracht. 2007 zog die TK dann in separate Räume in der Spillerstraße. Wie hat sich das Tageszentrum seither entwickelt?

HK.: Es gibt keine spektakuläre Entwicklung. Wir haben vermehrt die Räume über die regulären Öffnungszeiten hinaus und zur Öffentlichkeitsarbeit genutzt, und uns jüngeren psychisch kranken Menschen zugewandt, die einen niedrigschwelligen Hilfebedarf haben und obdachlos sind. Der Aufbau der Notunterkunft war sehr wichtig, und in der ganzen Zeit spielte die Suche nach adäquatem Wohnraum eine größere Rolle als die Struktur unseres Wochenplanes. Aber auch hier entwickelten sich in dieser Zeit die offenen und „inklusiven“ Angebote: Der BRÜCKE-Chor, die Trommelgruppe, und das Theater spielen.

R.: Du hast sehr lange Zeit das TZ geleitet und bei anderen Entwicklungen der BRÜCKE mitgewirkt. Was waren für Dich die wichtigsten Stationen dabei?

HK.: Vieles habe ich bereits erwähnt – für mich zur Person war es mir eine Freude, an konzeptionellen Weiterentwicklungen beteiligt zu werden, z.B. am ersten Entwurf für den Bereich „Sucht und Psychose“. Wir haben Personen mit Mehrfachproblematik immer aufgenommen und begleitet, aber wenn die Sucht vorrangig war, galt der Ausschluss aus dem Tageszentrum. Für diese vielen Personen ein neues gutes Angebot zu schaffen war mir wichtig, vielleicht, weil mein Ehepartner mit so einer Doppeldiagnose sehr herausgefordert war.

Insgesamt,  denke ich, war mir der Erhalt des niedrigschwelligen Arbeitens in der Beratung und in der Begegnungsstätte immer vorrangig, und hier bin ich unserer Geschäftsführung sehr dankbar, dass die Förderung dieses Bereichs immer wieder erfolgreich mit der Stadt verhandelt werden konnte, und natürlich bin ich froh, dass die Stadt Lübeck so etwas im Rahmen kommunaler Daseinsvorsorge für ihre BürgerInnen vorhalten will. Das ist eine Ausnahme, und nicht selbstverständlich.

R.: Du bist mit der Entwicklung der BRÜCKE sehr verbunden. Dass  Du jetzt in den Ruhestand gehst,  können sich viele innerhalb und außerhalb der BRÜCKE schwer vorstellen. Wie ist das für Dich? Und wirst Du zukünftig der BRÜCKE noch aktiv verbunden bleiben?

HK.: Da es sich um das gesetzliche Rentenalter handelt, kommt dieser Schritt ja nicht überraschend – ich habe im vergangenen Jahr sehr bewusst viele Dinge „zum letzten Mal“ gemacht und mich in kleinen Schritten aus der regulären Arbeit verabschiedet. Bei Oliver Schulz und unserem Team weiß ich das Tageszentrum in sehr guten Händen, und ich gehe frohen Herzens aus Strukturen heraus, die uns im Außen begegnen, die wir selbstverständlich erfüllen und an die wir uns anpassen, die aber meiner Vorstellung sozialpsychiatrischen Handelns zuwider laufen.

BRÜCKE-Geschäftsführer Frank Nüsse mit Hiltrud Kulwicki bei ihrer Abschiedsfeier
BRÜCKE-Geschäftsführer Frank Nüsse mit Hiltrud Kulwicki bei ihrer Abschiedsfeier

Der BRÜCKE bleibe ich für zunächst ein weiteres Jahr verbunden, weil ich noch Aufträge im Rahmen von „FoCuS“ habe (und vielleicht weitere bekomme),  und auch für einzelne Personen gelegentliche betreuerische Aufgaben  wahrnehmen werde. Darüber hinaus bleibe ich Vereinsmitglied und Mieterin bei der BRÜCKE – trete aber natürlich nicht mehr „in Erscheinung“ – es ist eine vorrangig innere Verbundenheit, schließlich war  aus heutiger Perspektive die Brücke mehr als die Hälfte meines Lebens  ein wesentlicher Teil meines  Alltags, und ich habe wunderbare Erinnerungen auch an gemeinsame Reisen und Feiern mit unseren BesucherInnen. Ich singe weiter in unserem Chor, den ich sehr schätze, und werde zumindest so lange im Theater-Ensemble bleiben, bis wir unser aktuelles Stück auf die Bühne gebracht haben werden.

Trotzdem freue ich mich aus viel selbstbestimmte Zeit und auf neue Herausforderungen, auch auf die, die das Alter mit sich bringen wird.

R.: Was ist Dein wichtigster Wunsch für die  Zukunft der BRÜCKE?

HK.: Ich wünsche der BRÜCKE, dass äußere Formen nicht in der Lage sein werden, wesentliche und wichtige Inhalte zu sprengen oder zu verwässern. Ich wünsche allen Beteiligten, dass das Unternehmen weiterhin erfolgreich ist, die KollegInnen vielfältig  inspiriert und kreativ neue Entwicklungen ins Leben bringen, und dass es weiterhin ab und zu einen Preis für die BRÜCKE als eine  der besten ArbeitgeberInnen im Sozialen Bereich geben wird.

Danke für das Gespräch und für Dich persönlich alles Gute mit mehr Zeit für neue Interessen.