Gedanken zur Planbarkeit des Lebens, zum Fördern und Fordern

Hier veröffentlich DIE BRÜCKE einen Debattenbeitrag der ehemaligen leitenden Mitarbeiterin Hiltrud Kulwicki. Hiltrud war bis zum Frühjahr 2018 Leiterin des Fachbereichs „Niedrigschwellige – und Tagesstrukturierende Angebote“ und damit auch des Tageszentrums der BRÜCKE, bevor sie nach 37 Jahren Zugehörigkeit zum Unternehmen in den Ruhestand gegangen ist. In dieser Zeit, in der Hiltrud die Entwicklung der BRÜCKE wesentlich mitgeprägt hat, haben sich Anforderungen, Bedingungen, der rechtliche Rahmen und die Sozialpolitik im Bereich der Gemeindepsychiatrie (und nicht nur dort) grundlegend geändert. Wir verstehen ihre Gedanken als Diskussionsbeitrag, gerade im Hinblick auf die nun erneut anstehenden Veränderungen durch das neue Bundesteilhabegesetz.

Beitrag von Hiltrud Kulwicki

So haben wir nun ein neues Gesetz, das eine Teilhabe am Leben in 9 unterschiedlichen Bereichen, die sauber definiert werden müssen, sicherstellen soll für diejenigen unter uns, die dies aufgrund unterschiedlichster Herausforderungen nicht, oder nur teilweise nicht, eigenständig bewältigen können.

Neue Gesetze sind die Antwort auf gesellschaftliche Entwicklungen – welche Entwicklung spielt hier eine Rolle?

Im Rahmen einer früheren „sozialen Marktwirtschaft“ wurde das Soziale einvernehmlich als „nicht marktfähig“ deklariert; die Bereiche umfassten politische Entscheidungen bezüglich der Bildung, der Kultur, des Gesundheitswesens und des sozialen Miteinanders in einer Solidargemeinschaft, in der alle füreinander einstehen.

In den letzten 30 Jahren vollzog sich ein Wandel zur reinen Marktwirtschaft, was bedeutet, dass es einen Anspruch gibt, alle Bereiche der menschlichen Gesellschaft unter die Marktgesetze zu stellen und wie ein Marktgeschehen zu führen. So werden Menschen immer mehr verpflichtet, ihren Teil zum Gelingen marktwirtschaftlicher Interessen eigenverantwortlich beizutragen. Sie sind nicht souveräne BürgerInnen des Staates, sondern „Humankapital“, das wirtschaftlich eingesetzt und verwaltet wird.

Der „aktivierende Staat“ maßt sich an, er könne auf alle sich wandelnden Lebensentwürfe in geeigneter Weise reagieren und sich damit vom Gedanken der staatlichen Fürsorge vollkommen verabschieden. Der Sozialstaat sei teuer, und schädlich, weil der die Initiativkraft der Einzelnen schwäche und ihren Willen zur Selbstbehauptung und –durchsetzung durch Versorgung untergrabe.

Jeder Mensch ist vollkommen für sich selbst verantwortlich, für sein Schicksal, sein Wohlergehen, seine Gesundheit, dafür, ob er Arbeit hat oder nicht – „jeder ist seines Glückes und Unglückes Schmied“ – weder gibt es Nachteile, die die Gesellschaft durch ihre Wirtschaftsordnung und Bildungspolitik erzeugt, noch eine Ungerechtigkeit bei der Verteilung der Güter. Unter diesen Voraussetzungen mutieren psychosoziale Fachkräfte zu „sozialromantischen Gutmenschen“, die ineffektiv sind, die sich den Gefühlen widmen und nicht den Tatsachen, und die Menschen von der Unterstützung durch den Wohlfahrtsstaat abhängig machen.

Psychosoziale Arbeit muss deshalb umorganisiert werden.

Das bedeutet: „Soziale Arbeit“ ist ein Produkt, das standardisiert herstellbar ist, und zwar schnell, schematisch, billig.

Es gilt:

  • „best practice“ anstelle fachlicher, individueller Reflektion und Methodenvielfalt einschließlich der aufwendigen sozialen Diagnose
  • Evidenzbasiertes Arbeiten tritt an die Stelle differenzierter Theoriebildung aus allen sozialen und Geisteswissenschaften
  • Es gibt Handbücher als Ersatz für persönliche Professionalität
  • Checklisten, Formulare und Bögen zur Selbsteinschätzung ersetzen das geruhsame Nachdenken und Beleuchten einer Situation aus unterschiedlichen Perspektiven
  • Qualifizierte, ganzheitlich ausgerichtete Arbeit wird als überflüssiger Luxus angesehen

Um so arbeiten zu können, benötigen wir effiziente psychisch kranke Menschen, die motiviert sind, die optimistisch in die selbst geplante Zukunft schauen, die überzeugt sind, die Kontrolle über ihr Leben, es „im Griff“ zu haben, die Veränderung orientiert sind und nicht am Gewohnten hängen, und die eine hoch flexible Rollenorientierung  – Entschuldigung: Die Rollentheorie ist sicherlich veraltet – haben. Nachdem wir dann nach ihren ihnen natürlich stets bewussten Bedürfnissen  und Wünschen die Teilhabeplanung abgeschlossen haben, vertrauen wir darauf, dass diese hoch effizienten, selbst verantwortlichen Menschen mit uns auf Augenhöhe alle Schritte zum Erreichen ihrer selbst gewählten Ziele gehen und die dafür nötige Anstrengung leisten können, die die erforderliche Konzentration aufbringen und ein gutes Zeitmanagement haben, und die natürlich benennen können, was denn nun von der passgenauen Hilfe welchen Effekt auf welchen Teil ihres Wohlergehens gehabt hat.

Sollte es Personen geben, die diese Voraussetzungen nicht erfüllen, bekommen Sie natürlich keine fürsorgliche Hilfe – nein, sie bekommen ein gleichrangig geführtes Coaching mit einem Self Effectiveness Training – den Englischkurs zur Verständigung inklusive.

Auch im Gesundheitswesen dienen Methoden nicht mehr zur Behandlung und Pflege von leidenden Menschen, sondern der Selbstoptimierung im selbst gemanagten Unternehmen „Lebensplanung“.  An die Stelle langfristiger Beziehungsarbeit und psychotherapeutischer Prozesse treten deshalb Methoden aus dem Coaching für Management und Karriereplanung:

  • Motivationspsychologie: Was bringt Menschen dazu, etwas zu tun? Wie Gedanken die Gefühle und das Verhalten bestimmen – persönliche Motivatoren identifizieren
  • Ziele setzen: Der Schlüssel zum Erfolg, einschließlich Visualisierungsübungen, natürlich attraktive Ziele entwickeln, fremdbestimmte Ziele zu den eigenen machen, und die komplexen Ziele in kleine Einheiten zerlegen
  • Dranbleiben! Raus aus der Komfortzone! Disziplin und Durchhaltevermögen stärken! Sich belohnen!
  • Unter- und überforderung vermeiden – das sind die Motivationskiller schlechthin!
  • Selbstfürsorge und Achtsamkeit allerorten
  • Reframing: Wechseln Sie die Perspektive, wenn es schwierig wird! Selbstreflexion: Was lehren mich meine Fehler? Wie schaffe ich mir ein förderliches Umfeld?
  • Persönlichkeit stärken: Ich erinnere mich an meine Erfolge, ich übernehme – mal wieder – Verantwortung

So wird schleichend aus der „Freiheit zur Krankheit“ ein „Zwang zur Gesundheit“. Früher galt Krankheit als Lebensrisiko, etwas, was nicht der eigenen Entscheidungsfähigkeit unterlag. Die Präventions- und optimierungsgesellschaft  schafft den Zwang zur Gesundheit. Leiden ist ausgeschlossen und,  wenn doch vorhanden, selbst verschuldet.

Wer fällt durchs Netz?

Leidende Personen, die durch schwere Erkrankungen keine effizienten Mitwirkende sind, die unter dem defizitären Blick helfender Personen Symptome des Leidens zeigen: Antriebsschwäche, Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen, Schlafstörungen, niedergedrückte Stimmung, Hoffnungslosigkeit, Verwirrtheit, Ängste, Einsamkeit, Armut, Fehlernährung aufgrund der Armut, miese Wohngegend aufgrund der Armut, weniger Mobilität aufgrund der Armut, weniger soziale Beziehungen und Kultur aufgrund der Armut, und auch in der schlechten Wohnung von Obdachlosigkeit bedroht… Diese Menschen bleiben vermutlich weiterhin Objekte paternalistischer Intervention: Mit Unterstützung gesetzlich bestallter Assistenz werden sie hocheffizient verwaltet und unsichtbar gemacht. Sie werden weiterhin in geschlossenen Einrichtungen aufbewahrt werden, und zwar so billig wie möglich. Dies wird durch das „Poolen von Leistungen“ und dem „Gebot der Wirtschaftlichkeit“ des neuen Bundesteilhabegesetzes ermöglicht.

Eine Sozialpsychiatrie, die das mitmacht, ist gegen das eigene Herz und lieblos. Gerade hier sollte aber die Liebe im Zentrum stehen, die Nächstenliebe, in der Definition von Erich Fromm:

„Nächstenliebe ist Liebe zwischen Gleichen. Diese ist die fundamentalste Form der Liebe: Ein Gespür für Verantwortlichkeit, Fürsorge, Achtung und Erkenntnis, das jedem anderen Wesen gilt sowie den Wunsch, dessen Leben zu fördern“.