Traumasensible Wohnumfeldbedingungen  –  ein präventiver Ansatz

Was benötigen traumatisierte Menschen mit Fluchterfahrung unmittelbar nach der Flucht in ihrem Wohnumfeld?

Aus aktuellem Anlass möchten wir aufgrund unserer Erfahrungen aus der Beratung, Begleitung und Behandlung von Menschen mit psychischen Erkrankungen und Migrationshintergrund besonders auf die Wechselwirkungen von förderlichen Lebensbedingungen und Traumaerfahrungen hinweisen. Die rechtzeitige Investition von Ressourcen in traumasensible Wohnumfeldbedingungen kann langfristig das Risiko schwerer Verläufe von psychischen Folgeerkrankungen minimieren.

Die Situation in Schleswig-Holstein

Aktuell sollen bis zu 17.000 geflüchtete Menschen aus der Ukraine in Schleswig-Holstein aufgenommen werden. Zurzeit besteht die Herausforderung, die Grundbedürfnisse der Menschen zu decken: dazu gehört ein Dach über den Kopf und ein Bett zum Schlafen, tägliche Verpflegung in kürzester Zeit zu organisieren. Mittel- und langfristig besteht die gesellschaftliche Aufgabe, das Wohnumfeld für Menschen mit Traumaerfahrungen so zu gestalten, dass ein sicherer Ort für gelingende Integration zur Verfügung stehen kann.

Das Risiko psychischer Erkrankungen

Bei Menschen mit Fluchthintergrund ist das Risiko, stressbedingt z.B. an Posttraumatischer Belastungsstörung, Angststörung und/oder Depression zu erkranken deutlich erhöht. Im Jahr 2006 untersuchte Ulrike Gäbel et al. von der Universität Konstanz in Kooperation mit Mitarbeitern des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF), die Prävalenz der Posttraumatischen Belastungsstörung(PTBS) unter Asylbewerbern in Deutschland. Die Studie zeigt, dass durch die Häufung traumatisierender Ereignisse wie Gefangenschaft, Folter und Flucht die Wahrscheinlichkeit für die Entwicklung einer PTBS im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung um etwa das Zehnfache erhöht ist. Allerdings entwickeln nicht alle Flüchtlinge, die traumatischen Situationen ausgesetzt sind, eine PTBS oder Traumafolgestörungen.

Ob und wie diese Erkrankungen sich ausprägen, hängt davon ab, welche Lebensbedingungen direkt nach dem traumatischen Erlebnis für geflüchtete Menschen vorgehalten werden können. Auch innere Faktoren (wie die persönliche Disposition: positives Selbstwertgefühl, optimistischer Blick in die Zukunft) nehmen Einfluss auf die Entwicklung bzw. den Verlauf einer psychischen Erkrankung.

Auf das Trauma wirkt nicht nur die Einzelerfahrung des Erlebten, sondern auch der Prozess unterschiedlicher lebensgeschichtlicher Erfahrungen. Die gesamtgesellschaftliche Reaktion auf Menschen mit Fluchthintergrund hat einen direkten Einfluss auf den Krankheitsverlauf einer Traumafolgestörung.

Geflüchtete Menschen haben häufig nicht nur vor und während der Flucht Gewalterfahrungen gemacht und sind dadurch belastet, sie stehen auch vor der Aufgabe, diese in einer von Einschränkungen und Unsicherheit geprägten neuen Lebenssituation zu verarbeiten. Die Unterbringung und die damit verbundenen Angebote und Zugänge zu einem gesicherten Wohnumfeld sind entscheidend für die Verarbeitung des Erlebten und damit dem (Wieder-) Erhalt der seelischen Gesundheit.

Daher ist die Unterstützung der Geflüchteten unmittelbar nach ihrer Ankunft von großer Bedeutung, damit sich Gefühle wie z.B. Passivität, Hilflosigkeit und Ohnmacht nicht wiederholen, denen sie auch schon während der traumatisierenden Situationen vor und während der Flucht ausgesetzt waren.

Von der äußeren zur „inneren Sicherheit“

Für die Gesundheit und Entwicklung für psychisch belastete Menschen ist die Sicherheit ihrer Umgebung sowie ein erholsamer Schlaf von zentraler Bedeutung.  Andernfalls erleben sie weiterhin eine Situation, die von permanenter Angst und Bedrohung geprägt ist. Die Sicherheitsstandards für Schutzräume zum Beispiel speziell für Frauen und ihre Kinder sind unbedingt einzuhalten. Insbesondere für traumatisierte Geflüchtete ist die „äußere Sicherheit“ von großer Bedeutung, um sich auch psychisch wieder stabilisieren zu können.

Der Aufbau Sozialer Netzwerke

Geflüchtete Menschen benötigen die Chance, sich als Teil einer „normalen“ Lebenssituation zu erleben, einer Nachbarschaft anzugehören, Teilhabe zu erfahren und sich ein soziales Netz aufbauen zu können.

Es braucht dafür eine stabile soziale Anbindung sowohl an Communities als auch an die Aufnahmegesellschaft in den Kommunen.

Zugang zu Bildung

Durch den Besuch von Kita und Schule erhalten Kinder und Jugendliche die Möglichkeit, in den Strukturen und der Routine der Institutionen einen „sicheren Ort“ zu finden, an dem sie mit ihren Fähigkeiten ernst genommen werden, soziale Kompetenzen ausbauen und Freundschaften aufbauen können. Der möglichst frühe Zugang zur Bildung, in die Schul-und Ausbildungssysteme ist ein wichtiger Resilienzfaktor, deren Inanspruchnahme häufig mit sehr hoher Motivation und Einsatzbereitschaft der geflüchteten Menschen einhergeht. Besonders der schnelle Zugang zu Sprachkursen ist dabei ein wesentlicher Faktor, um eine gelingende Integration zu ermöglichen.

Berücksichtigt werden sollte an dieser Stelle jedoch auch, dass ein wesentlicher Teil des schulischen Lernens auch außerhalb der Schule mit den Hausaufgaben stattfindet und Schüler*innen dafür ein sicheres, konzentrationsförderndes Umfeld brauchen. Auch in den Unterkünften braucht es dafür geschützte, ruhige und lernförderliche Orte für die Schüler*innen.

Gestaltung räumlicher Bedingungen

Damit Menschen sich sicher und geschützt erleben können, benötigen sie Unterkünfte, die den Prinzipien Trauma sensibler Umgebung besonders nahekommen oder diese bestenfalls erfüllen:

  • Ruhe- und Rückzugsräume; abschließbare Zimmer; Raum für Privatsphäre (räumliche Enge verändert die Familiendynamik und führt zu Konflikten).
    Sicherheitsstandards zum Schutz für Frauen;
    • Hygienestandards mit ausreichend zur Verfügung stehenden  Sanitäranalagen
    • Ruhezeiten und -räume für Kinder und Jugendliche zum Lernen (Hausaufgaben) und Spielen
  • Alltagsstrukturen, die Sicherheit und Verlässlichkeit bieten;
    Soziale Interaktionen, die alternative Beziehungserfahrungen nach Gewalt und Verlust ermöglichen;
    • Sinnstiftende Tätigkeiten/ Tagesstruktur/ Arbeitsmöglichkeiten

Einfluss der Lebensumstände auf die Gesundheit und Genesung

Das Erleben von Unsicherheiten und Einschränkungen in der Autonomie und Selbstbestimmung sowie das Fehlen eines „sicheren Ortes“ haben einen deutlichen negativen Einfluss auf Genesungsprozesse und das Wiedererlangen seelischer Stabilität. In der Folge können sich Symptome von Traumafolgestörungen manifestieren. Dies führt dazu, dass im weiteren Verlauf die Angstzustände immer komplexer werden, eine Eigendynamik entfalten können und nach vielen Jahren noch schwerer zu durchbrechen sind. Damit dieses System und die Dynamik verändert und die psychische Stabilität nach traumatischen Erlebnissen wiederhergestellt werden kann, ist das Erleben von Sicherheit, Akzeptanz und gesellschaftliche Teilhabe grundlegend.

Für weitere Fragen steht die Psychosoziale Beratung für traumatisierte Menschen mit Migrationshintergrund zur Verfügung.

Das Beratungsangebot richtet sich an psychisch erkrankte volljährige Menschen mit Migrationshintergrund in Lübeck und Umgebung, die aufgrund ihrer Erkrankung Unterstützung suchen. Auch Angehörige, Ärzte, ehrenamtliche Mitarbeitende von betreffenden Einrichtungen und andere Interessierte können sich an die Beratungsstelle wenden.

Zur Beratungsstelle für traumatisierte Menschen mit Migrationshintergrund…

Literaturhinweise / weiterführende Links

BAMF (2020) Psychosoziale Folgen des Lebens in Sammelunterkünften für geflüchtete Kinder https://www.baff-zentren.org/wp-content/uploads/2020/05/BAfF_Living-in-a-box_Kinder-in-Ankerzentren.pdf

BAMF (2008)Was hilft. Wege aus der Isolation.Geflüchtete sprechen über ihre Erfahrungen mit Psychotherapie. https://www.baff-zentren.org/wp-content/uploads/2008/05/BAfF_Was-hilft.pdf

Gerlach, C& Pietrowsky, R.(2012): Trauma und Aufenthaltsstatus. Einfluss eines unsicheren Aufenthaltsstatus auf die Traumasymtomatik bei Flüchtlingen. Verhaltenstherapie & Verhaltensmedezin 33, S. 5-19.

Gäbel, U. et al. (2006): Prävalenz der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTSD) und Möglichkeiten der Ermittlung in der Asylverfahrenspraxis. In: Zeitschrift für Klinische Psychologie und Psychotherapie, 35, 12-20.

Kleefeldt, B. Wolff, L. Carlo (2016):Flüchtlinge in unserer Praxis. Information für ÄrtInnen und PsychotherapeutInnen. S. 26-27 ., (Hersg. BafF e.V, Berlin).

https://www.mhfa-ersthelfer.de/de/was-ist-mhfa/ukraine/

Paritätischer SH: PARITÄTISCHER SH fordert: Zeitwende in der Migrationspolitik. Link zum vollständigen Artikel (s.o.)…